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Die Geburt der Deutschen Nation (1806-1848)
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[zitiert nach Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte, s. u.]
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Der kriegerische Erfolg der französischen Bürgersoldaten, die im Namen ihrer “einen und unteilbaren Nation” kämpften und siegten, kam nicht von ungefähr. Denn, mit den Worten des
Magisters Laukhard aus Halle, der in französische Gefangenschaft geraten war, in der Revolutionsarmee gedient hatte und also wußte, wovon er sprach: Die Franzosen besaßen “was die edlen
Verteidiger des alten Griechenland auch an sich hatten, nämlich warme Liebe zu ihrem Vaterlande, eine Liebe, die der Deutsche deswegen nicht kennt, weil er als Deutscher kein Vaterland
hat”.
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Kaiser Napoleon
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Es konnte daher scheinen, als seien die französischen Heere unbesiegbar. 1805 schlug Napoleon Österreichs Hauptmacht bei Austerlitz, der anschließende Friede von Preßburg ließ Österreich nur
noch den Status einer Mittelmacht. Am 14. Oktober 1806 erlitt die preußische Armee bei Jena und Auerstedt ein ähnliches Schicksal; die preußische Niederlage war so vollständig, daß es zu
weiteren größeren Schlachten nicht mehr kam. Napoleon zog in Berlin ein von der Bevölkerung begeistert begrüßt. Im Jahr darauf unterzeichnete der preußische König Friedrich Wilhelm III.
das harte Friedensdiktat des Siegers, und Preußen wäre wohl ganz von der Landkarte verschwunden, wenn nicht Napoleon und dem russischen Zar Alexander I. an einem strategischen Glacis zwischen
ihren Machtblöcken gelegen gewesen wäre.
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Deutschland war bisher ohne die Hülle des Reiches nicht denkbar gewesen. Die Hülle war seit 1806 verschwunden, und weniger denn je konnte man jetzt so recht sagen, was Deutschland sei. Als
preußischer, bayerischer, sachsen-gothaischer oder schwarzburg-sondershausenscher Untertan konnte man sich zwar als “Teutscher” fühlen, aber “Teutschheit” konkurrierte
ohne weiteres mit einem verbreiteten bürgerlichen Kosmopolitismus wie auch mit der Loyalität zum jeweiligen Landesherrn, und wenn von “Nation”, “Vaterland” und
“Patriotismus” die Rede war, dann konnte irgendein vage umgrenztes Deutschland ebenso gemeint sein wie das Staatswesen, in dem man lebte, aber auch ohne weiteres beides gemeinsam.
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Der Schock der Niederlagen, das Gefühl der Demütigung, die schweren Finanzlasten, die die besiegten Staaten zu tragen hatten, die verheerenden Durchmärsche der französischen Armeen, die sich
aus dem Land ernährten und es auspreßten, die Teuerungen, die das französische Zollsystem hervorrief: Das alles kam zusammen, um zwei - einander durchaus entgegengesetzte - Veränderungen zu
bewirken: die Reformen in den deutschen Staaten nach französischem Vorbild und die Entdeckung der deutschen Nation.
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Auch diejenigen Staaten, die außerhalb des Rheinbundes, aber stets unter napoleonischer Bedrohung standen, reformierten ihre Strukturen im wesentlichen´nach französischem Vorbild: Österreich
und Preußen. Für die Regierenden und leitenden Beamten dieser Staaten ging es vor allem darum, die Niederlagen von Austerlitz und Jena zu kompensieren und die Machfülle ihrer Staaten
wiederherzustellen und auszuweiten. Frankreich diente hier vor allem insoweit als Vorbild, als es den Reformern eingab: Eine Niederlage wie 1805 oder 1806 darf uns nie wieder passieren.
Namentlich in Preußen, das sich bei den Reformen als zielgerichteter und veränderungsfähiger erwies als der schwerfällige Körper der Donaumonarchie, wurde der neue Staat in unerhörter
Konzentration und Machtfülle gedacht.
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Zugleich regte sich auch in der Bevölkerung Widerstand gegen die Besatzung. Die Reformen gingen langsam vor sich, und einer zunehmenden Zahl von Bürgern schien die diplomatische
Unterwürfigkeit ihrer Regierungen gegenüber dem übermächtigen Frankreich schwächlich und ehrlos. Begriffe wie “Vaterland” und “Nation” wurden unter dem Eindruck der
napoleonischen Okkupation zu Losungswörtern. Im Winter 1807 auf 1808 hielt der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) im französisch besetzten Berlin seine “Reden an die
deutsche Nation”: Das deutsche Volk, erklärte er, sei das ursprüngliche, das unverfälschte Volk, das gegen militärische wie kulturelle Unterjochung durch Frankreich um seine Freiheit
und Identität kämpfe und damit im Dienste des geschichtlichen Fortschritts. Schon predigte Ernst Moritz Arndt (1769-1860): “Einmüthigkeit der Herzen sey Eure Kirche, Haß gegen die
Franzosen Eure Religion, Freyheit und Vaterland seyen die Heiligen, bei welchen ihr anbetet!”
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So erklärt sich auch der erstaunliche Stimmungsumschwung in Deutschland, als die Nachricht vom Brand Moskaus und von Napoleons verlustreichem Rückzug aus Rußland bekannt wurde. Während der
Zusammenbruch des Reichs 1806 auf wenig Interesse gestoßen war und die Deutschen von Napoleon fasziniert gewesen waren, traf jetzt nach der Vernichtung der Grande Armée in Rußland der Aufruf
Friedrich Wilhelms III. “An mein Volk” vom 17. März 1813 auf eine Massenbegeisterung, die in manchem Ähnlichkeiten mit den Aufstandsbewegungen der Französischen Revolution besaß,
angefeuert durch eine Flut nationalistischer und franzosenfeindlicher Propaganda und Dichtung, an der zu beteiligen sich kaum ein deutscher Dichter zu schade war - mit der seltenen Ausnahme
des Weltbürgers Goethe, dem die nationale Aufwallungen seiner Landsleute zuwider waren und der Napoleons Orden auch dann noch trug, als das unpopulär geworden war. Die Freiheitskämpfe gegen
Napoleon wurden als wirklicher Volkskrieg empfunden. Theodor Körner (1791-1813), Poet und Kriegsfreiwilliger, dichtete: “Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen, es ist ein
Kreuzzug, s’ist ein heil’ger Krieg.” Bildungsbürger und Handwerker strömten in die Freikorps, während die Frauen Gold für Eisen gaben und Scharpie für Wundverbände zupften.
Die Menschen wurden von einem Taumel erfaßt, der für knapp anderthalb Jahre die deutsche Nation zum sinnlichen Erlebnis machte.
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Königin Luise von Preußen, Nikolaus Lauer, 1799. Der Mythos der Königin Luise (1776-1810) setzte noch zu ihren Lebzeiten ein und steigerte sich nach ihrem frühen Tod. Die
Demütigung, die ihr Napoleon 1807 zufügte, als er ihre Bitte um einen milden Frieden auf unhöfliche Weise zurückwies, galt als sinnbildlich für Preußens Demütigung durch
Frankreich. Ihre Anmut und ihre bürgerliche Lebensführung erwarben ihr die Anhänglichkeit der Bevölkerung; der Dichter Novalis schlug bereit 1787 vor: “Jede gebildete Frau
und jede sorgfältige Mutter sollte das Bild der Königin in ihrem oder ihrer Töchter Wohnzimmer haben... So könnte hier durch diese beständige Verwebung des königlichen Paares in
das häusliche und öffentliche Leben ächter Patriotism entstehen.”
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Wo französische Satellitenregierungen installiert waren - das galt für das Königreich Westfalen und das Großherzogtum Berg -, wurden Verwaltung und Rechtssystem direkt von
Frankreich oktroyiert. Die Verbündeten Frankreichs, also die Rheinbundstaaten, die schließlich sämtliche deutschen Länder mit Ausnahme Preußens und Österreichs umfaßten,
übernahmen die französischen Institutionen und Rechtsnormen in unterschiedlicher Weise, oft eigenen Traditionen angepaßt. Verfassungen wurden erlassen, die Staatsverwaltungen nach
französischem Muster modernisiert, der Code Napoléon wurde übernommen, das neue französische Zivilgesetzbuch, das die Feudalverfassung nicht kannte und den bürgerlichen Staat der
nachrevolutionären Ära in rechtliche Normen faßte. Bürgerliche Rechte, Abschaffung der Adelsprivilegien, Befreiung der Bauern - dieser Teil Deutschlands hatte seine Unabhängigkeit
verloren, aber im Innern war er freier und fortgeschrittener als das übrige Deutschland.
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Es waren Staatsdiener, also Beamte, Soldaten und Juristen, die die Reformen trugen und die sich als legitime Vertreter des Staatsganzen sahen. Mit geradezu revolutionärem Schwung,
geführt von den leitenden Ministern Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757-1831) und Karl August von Hardenberg (1750-1822), ging man daran, den neuen Staat per Dekret zu
verfertigen. Es ging um die Ablösung des alten Söldnerheers durch eine Armee freier Staatsbürger, deren Avancement nicht mehr Sache ihrer Geburt, sondern von Leistung und
Verdienst sein sollte; um Straffung und Modernisierung von Regierung und Verwaltung; um die Aufhebung der Gutsuntertänigkeit der ostelbischen Bauern, um Städteordnung und
Landgemeindereform, Judenemanzipation und Modernisierung der Justiz, Freiheit von Kapital und Gewerbe. Als Krönung des Ganzen versprach man eine preußische Nationalrepräsentation,
in der die gewählten Vertreter des Volks der Krone gleichberechtigt gegenübertreten sollten.
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Auch organisatorisch wurde eine Nationalbewegung erkennbar, vorwiegend in Form konspirativer Gruppierungen wie des Tugendbundes, des Deutschen Bundes des “Turnvaters” Friedrich
Ludwig Jahn oder einer Fülle von mehr oder weniger informellen Gesprächskreisen. Allen diesen Gruppierungen war gemeinsam, daß sie eine zögernde, oft sogar verräterisch erscheinende
Staatsführung zum nationalen Freiheitskampf drängen wollten, und wo das nicht ging, da entstanden aktivistische, patriotische Kleingruppen, die den Insurrektionskrieg übten, wie die Aufstände
und Streifzüge des hessischen Obersten Wilhelm v. Dörnberg, des preußischen Majors Ferdinand v. Schill, des Braunschweiger Schwarzen Herzogs im Jahr 1809 zeigten. (...)
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Dennoch stand anfangs das Kriegsglück auf der Kippe. Rußland, England, Preußen und Schweden genügten nicht, um das letzte Aufgebot Napoleons in die Enge zu treiben; erst mußte noch
Österreich, nach langem Zögern, der Koalition beitreten, und schließlich gingen die rheinbündischen Truppen in das alliierte Lager über, hastig gefolgt von ihren Fürsten. Im
Frühjahr 1814 standen die verbündeten Armeen vor Paris, Napoleon dankte ab. Ein mehr als zwanzigjähriger Weltkrieg war zu Ende.
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Ende des Zitats aus: Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte: mit Bildern aus dem Deutschen Historischen Museum. C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1996. ISBN 3 406 40999 7
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Was kam danach?
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- Wiener Kongreß 1814-15 - Napoleons Staatsstreich (100 Tage) - Belle-Alliance (Waterloo) - Preußen reicht von Aachen bis Tilsit - Österreich verliert im Westen an Einfluß
- Deutscher Bundestag in Frankfurt - Mitteleuropa weiterhin zersplittert - Studentenschaften auf der Wartburg (1817) - Carl Sand ermordet August v. Kotzebue (1819)
- Karlsbader Beschlüsse (1819) - Österreich und Preußen kehren zum Absolutismus zurück
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